Interview mit Dr. Markus Pieper
Markus Pieper überwindet gerne Grenzen, räumlich und intellektuell. Der gebürtige Westfale studierte Osteuropäische Zeitgeschichte und lebte in Warschau. In seiner Doktorarbeit erforschte er die Zusammenarbeit von Städten in der DDR und in Polen über die Wende 1989 hinaus. Seit 2021 ist Markus Pieper Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und gehört seit dem Herbst 2023 dem Kuratorium des Jahres der jüdischen Kultur in Sachsen an. Wir haben Dr. Pieper um ein Interview gebeten, dieser Bitte kam er gerne nach:
Sie stammen aus Ostwestfalen und haben in Berlin und Weimar gewirkt. Was führte Sie nach Sachsen?
Dr. Markus Pieper:
2021 stand die Neuausrichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten an. Das war für mich eine interessante Aufgabe, denn sie verbindet viele der Themen, mit denen ich mich in den Jahren zuvor beschäftigt hatte: die Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, die erinnerungskulturelle Arbeit in Gedenkstätten, die Vernetzung mit unseren ostmitteleuropäischen Nachbarn. Und auch mit Dresden verbindet mich sowohl privat als auch wissenschaftlich viel. Ich habe mich also auf die Stelle bei der Stiftung beworben und hatte das Glück, ausgewählt worden zu sein.
Was versteht man als „Gedenkstätte“?
MP:
Die von uns betriebenen Gedenkstätten befinden sich an oder bei historischen Orten, an denen Menschen Opfer politischer Gewaltherrschaft wurden, im Nationalsozialismus, während der sowjetischen Besatzungszeit oder in der DDR. Bei allen grundsätzlichen Unterschieden zwischen diesen Verfolgungsperioden geht es generell in Gedenkstätten darum, den Menschen, die ausgegrenzt, verschleppt, ermordet oder politisch verfolgt wurden, ein ehrendes Gedenken zu bewahren und die historischen Orte als Sachzeugen des Unrechts zu sichern. Eine weitere Aufgabe ist die Auseinandersetzung mit unserer heutigen Gesellschaft. Wir vermitteln, wie Mechanismen von Ausgrenzung, Herabwürdigung und Verfolgung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts wirkten und wie Menschen sich dagegenstellten. Indem wir die Handlungen der Täter, die Funktionsweise der Regime sowie individuelle und kollektive Formen des Widerstands vermitteln, wollen wir zu einer kritischen Reflexion anregen. Unser Ziel ist es, historische Erfahrungen mit unserer Gegenwart in Bezug zu setzen. Dabei geht es darum, demokratisches Bewusstsein zu stärken, Sensibilität für menschenfeindliche Tendenzen zu schaffen und zur aktiven Mitgestaltung einer offenen und pluralen Gesellschaft zu ermutigen. Gedenken und Bildungsarbeit sind also zwei wichtige Säulen der Arbeit in unseren Gedenkstätten.
Wie groß ist die inhaltliche Spannbreite der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten und wie stark liegt dabei der Fokus auf jüdische Themen?
MP:
Die Stiftung selbst betreibt sechs Gedenkstätten mit sehr unterschiedlichen Themenschwerpunkten. Diese reichen von den nationalsozialistischen Krankenmorden, dem Missbrauch der politischen Strafjustiz, der Geschichte des Reichskriegsgerichts und dem Schicksal der Gefangenen in den Torgauer NS-Militärgefängnissen und im Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht in Zeithain über die nach 1945 errichteten sowjetischen Speziallager bis hin zur Stasi-Haft in Bautzen. Nicht zuletzt hilft unsere Dokumentationsstelle Dresden, die Verfolgungsgeschichte von Personen zu klären, die während des Nationalsozialismus oder in der SBZ/DDR ihrer Freiheit oder ihres Lebens beraubt worden sind. In einigen Jahren soll auch die zurzeit im Aufbau befindliche Gedenkstätte KZ Sachsenburg zu unserer Stiftung kommen. Drei von uns finanzierte Archive bewahren das Erbe der DDR-Opposition. Außerdem fördert die Stiftung neun weitere sächsische Gedenkstätten institutionell, darunter die Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden, die „Runde Ecke“ in Leipzig, die Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig, die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz und die Gedenkstätte Hoheneck. Sowohl Themenspektrum als auch Trägerstrukturen sind also enorm weit.
Die historischen Orte wie ehemalige Lager, Gefängnisse, Kliniken, Gerichte oder Hinrichtungsstätten, an denen wir unsere Gedenkstätten betreiben, stammen aus dem Nationalsozialismus, der sowjetischen Besatzungszeit oder der SED-Diktatur. Mehrere von ihnen wurden auch in allen drei Verfolgungsperioden genutzt. Zwar ist keiner dieser Orte ausschließlich mit der Verfolgung von Jüdinnen und Juden verbunden, doch sind viele von ihnen eng mit jüdischen Schicksalen verwoben – und das spiegelt sich auch in unseren Ausstellungen und Bildungsangeboten wider. Angesichts der zentralen Bedeutung der Schoah für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft stellt das Fehlen eines genuin jüdischen Erinnerungsortes in Sachsen dennoch ein klares Defizit dar. Für uns ist es daher immens wichtig, mit jüdischen Gemeinden und Organisationen zu kooperieren, um trotzdem jüdische Themen abzudecken.
Viele Zeitzeugen aus der NS-Zeit und der frühen DDR sind mittlerweile verstorben, wie geht man als Gedenkstätte damit um, dass diese nicht mehr ihre Geschichte vermitteln können?
MP:
Wo immer es geht, arbeiten wir eng mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zusammen. Deren Erfahrungen und Lebensberichte sind für uns selbst, aber natürlich vor allem für die Besucherinnen und Besucher sowie für unsere Bildungsangebote von unschätzbarem Wert. Dies betrifft naturgemäß leider fast nur noch den Bereich der DDR-Geschichte, und auch hier zunehmend die späten Jahre, wie Sie ganz richtig feststellen. Unsere Aufgabe besteht deshalb darin, die Lebenserinnerungen „lebendig“ und verfügbar zu halten, sei es durch den verstärkten Einsatz von Biografien in unseren Ausstellungen, sei es durch digitale und multimediale Angebote oder durch Kontakte zu Zeitzeugen späterer Generationen, insbesondere zu Angehörigen der einst verfolgten Menschen. Auch diese haben, wenn sie auch nicht unmittelbar über einen eigenen Verfolgungskontext sprechen können, in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, neue Themenkomplexe zu erschließen und eine andere Perspektive auf die Vergangenheit einnehmen zu können. Wenn Töchter von politischen DDR-Häftlingen der fünfziger Jahre darüber berichten, wie fremd ihnen ihre jahrelang abwesenden Eltern geworden waren, oder wenn Söhne von Holocaustüberlebenden über das schwere (Wieder-)Ankommen im Nachkriegsdeutschland ihrer Eltern berichten, gewinnt Geschichte auch hier eine sehr persönliche und zugängliche Note und macht transgenerationale Auseinandersetzungen und Traumata sichtbar.
Aktuell gibt es eine Zunahme von extremistischen und antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft. Welche Rolle könnten Gedenkstätten dabei spielen, um hier gegenzusteuern?
MP:
In allen unseren Gedenkstätten können Sie erfahren, was es bedeutet, wenn fundamentale Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt sind, wenn die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen getreten wird und demokratische Werte relativiert oder ganz abgeschafft werden, was es heißt, das eigene Land nicht verlassen zu dürfen oder was passieren kann, wenn Sie aus politischen oder rassischen Gründen staatlicher, polizeilicher oder geheimdienstlicher Verfolgung ausgesetzt sind, ohne sich dagegen wehren zu können. Unsere Ausstellungen und Bildungsprogramme vermitteln sehr anschaulich den Wert der Menschenwürde und der demokratischen Grund- und Freiheitsrechte. Genau diese Rechte werden von populistischen und extremistischen Parteien und Organisationen immer wieder infrage gestellt. Insofern erfüllen wir einen demokratischen Bildungsauftrag und sensibilisieren immer wieder dafür, dass freie und demokratische Gesellschaften immer auch gefährdet sind durch vermeintlich einfache Antworten, durch Desinteresse an politischen Fragen oder sogar durch aktive Bestrebungen, diese Freiheit abzuschaffen. Ein Allheilmittel sind Gedenkstätten sicherlich nicht, aber ein wichtiger Mosaikstein demokratischer Bildungsarbeit neben Schulen, der Familie, Medien, der Wissenschaft und der Politik.
In Gedenkstätten werden ernste Themen verhandelt, schlägt sich dies auch auf die Stimmung im Umgang der Mitarbeiter untereinander nieder?
MP:
Ganz wesentlich dafür, dass wir mit bewegenden und teilweise sehr grausamen Themen umgehen können, ist sicherlich die hohe Motivation unserer Beschäftigten. Es gibt wohl keine Kollegin und keinen Kollegen in unseren Häusern, der oder die nicht weiß, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Opfer zu bewahren und zu vermitteln, worin die fundamentalen Unterschiede zwischen einer Diktatur und einer Demokratie bestehen. Das Wissen um die Relevanz dieser Themen für unsere Gesellschaft ist sicher ein wichtiger Schutz angesichts vieler erschütternder Schicksale, mit denen wir es oft zu tun haben. Daneben bieten wir selbstverständlich auch professionelle Hilfe wie etwa Supervisionen oder eine psychologische Beratung an, an die sich unsere Kollegen jederzeit wenden können.
Der ursprüngliche Anlass für das Themenjahr der jüdischen Kultur in Sachsen war die Diskussion zur Gründung eines Museums, dass die jüdische Geschichte Sachsens thematisiert. Was wären die Vor- und Nachteile eines derartigen Museums?
MP:
Wir stellen in Sachsen ein großes öffentliches Interesse fest, sich über jüdisches Leben, jüdische Geschichte, Religion und Kultur zu informieren. Oftmals wird jüdische Geschichte auf den Holocaust reduziert. Ein jüdisches Museum könnte hier wichtige Impulse setzen und das Bewusstsein dafür heben, dass Jüdinnen und Juden seit vielen Jahrhunderten Teil unserer Gesellschaft sind und auch heute sehr viel mehr dazu beitragen als vielleicht die Erinnerung an die Reichspogromnacht oder leckeres Essen.
Aktuell plant die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eine Außenstelle in Deutschland. Neben Bayern und Nordrhein-Westfalen steht auch Sachsen als Standort zur Auswahl. Was könnte diese Außenstelle in Sachsen bewirken?
MP:
Die Überlegung, eine Außenstelle von Yad Vashem in Sachsen anzusiedeln, begrüßen wir sehr. Eine solche Einrichtung könnte einen wichtigen Beitrag leisten, die Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus weiter zu stärken und zu vertiefen – insbesondere im Bereich der Bildung. Das wäre eine sinnvolle Ergänzung zu den Angeboten, die es bereits in Sachsen gibt – etwa von den jüdischen Gemeinden, dem Ariowitsch-Haus, dem Beauftragten für das Jüdische Leben, unserer Stiftung und weiteren Initiativen wie dem Alten Leipziger Bahnhof in Dresden –, die jedoch aus Ressourcengründen nicht noch mehr leisten können.
Sie sind Mitglied des Kuratoriums von Tacheles 2026 seit Aufnahme der Arbeit im Herbst 2023. Was sind Ihre Aufgaben und wie hat sich die Konzeption des Themenjahres in den letzten beiden Jahren verändert?
MP:
Es war sehr spannend, mitzuerleben, wie sich die Idee eines Jahres der jüdischen Kultur in Sachsen innerhalb von zwei Jahren immer mehr mit Leben gefüllt hat. Zu Beginn waren wir alle von der Idee begeistert, aber es war naturgemäß noch wenig konkret. Dem Projektteam ist es auf wunderbare Weise gelungen, daraus ein prallvolles Programm mit vielfältigen Projekten, Informations- und Kulturveranstaltungen, Theateraufführungen und Konzerten auf die Beine zu stellen, das die ganze Bandbreite jüdischen Lebens zwischen dem Vogtland und der Oberlausitz repräsentieren wird. Und das Angebot wächst weiter und weiter! Vor dieser Leistung kann ich nur den Hut ziehen. Für mich persönlich war es wichtig, im Kuratorium, das das Projektteam berät, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit Terror und Verfolgung, in das Jahr der jüdischen Kultur einzubringen. Denn zur Kultur gehört auch unsere Erinnerungskultur. So beteiligen sich beispielsweise alle unsere Gedenkstätten mit öffentlichen Veranstaltungen zu jüdischen Themen an Tacheles 2026.
Worauf freuen Sie sich am meisten im Themenjahr und was erhoffen Sie sich von diesem Jahr?
MP:
Persönlich freue ich mich am meisten auf die vielen Konzerte, die angeboten werden, und oft mit Informationsveranstaltungen, Stadtführungen oder Diskussionen verknüpft sind. Denken und diskutieren mit der sinnlichen Erfahrung schöner Musik zu verknüpfen, halte ich für eine ausgezeichnete Idee. Ich erhoffe mir, dass jüdisches Leben, jüdische Kultur und jüdische Nachbarinnen und Nachbarn ein Jahr lang landauf, landab sehr viel stärker öffentlich sichtbar sind als sonst. Wenn den Menschen in Sachsen nahegebracht wird, wie sehr jüdische Geschichte Teil ihrer eigenen Geschichte ist, wäre unglaublich viel gewonnen.
Gibt es ein jiddisches Wort, das Ihnen besonders gut gefällt?
MP:
„Schlamassel“ mag ich sehr. Natürlich bedeutet es etwas Negatives – Pech oder Unglück. Gleichzeitig schwingt aber auch ein Augenzwinkern mit, etwa wenn wir uns angesichts von uns selbst verursachten Schwierigkeiten selbstkritisch fragen müssen, in welchen Schlamassel wir uns da wieder hineinmanövriert haben. Diese Ironie gefällt mir sehr gut.
